Das beste Fundament fürs Leben.

Vielleicht ist es eine klassische Familien-Konstellation zwischen mir und meinen Eltern, die sich insofern äußert, als dass ich meine Herzkomponente ursächlich als Samen meiner Mutter betrachte und die Kopfnote von meinem Vater erhielt. Damit ist die Rollenverteilung erstmal stereotyp erklärt, aber nicht falsch oder wertend betrachtet. Wie bereits in vorigen Beiträgen erwähnt, setzte sich der melancholische Einschlag aus der mütterlichen Ursprungsfamilie in mir deutlich fort, aber eben auch die (väterlich) sachliche Denkermentalität und mitunter als kühl empfundene Logik – ohne jedoch unsensibel zu sein: jedenfalls nicht prinzipiell. Weder das Eine, noch das Andere stellt sich für mich heute als Vor- oder Nachteil dar, denn ich schöpfe mehr und mehr das Potential beider Facetten aus, die mich zur zweiseiten Medaille formen. Aus welchem Holz diese geschnitzt ist, mögen andere beurteilen.

Nach vielen Gesprächen vor und nach dem Tode meines Bruders zwischen mir und meiner Mutter kann ich heute sicher sagen, dass ich die gefühlte Distanz zu ihr nicht nur auf die Entfernung des Wohnortes schieben mag, aber eben auch nicht auf ein bestimmtes Erlebnis münzen kann. Wahrhaft betrachtet und ohne jeglichen Vorwurf entstammt die Unbeständigkeit, die ich auch in meinen Verhältnissen zu Mitmenschen wahrnehme, sicherlich aus dem Band zwischen meiner Ma und mir. Sozusagen als angenommene Prägung, aber eben auch aufgrund einer sehr identischen Seite in mir, die mich oft an meine Ma erinnert. Dies ist auch keine Frage der Liebe als vielmehr das Ergebnis aus dem Konflikt zwischen Nähebedürftigkeit und Distanzwunsch. Mich als warmherzigen, die Welt umarmenden Menschen zu betrachten würde darin gipfeln, mich selbst wegen dieses Blödsinns auszulachen.

Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind.

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Distanziert, ab und an kühl, aber voller Empathie; dies würde ich unterschreiben. Meiner Erfahrung nach ist es heutzutage sehr schwer, sich selbst wahrzunehmen inmitten aller Ansprüche und externer Einflüsse, die auf uns einprasseln. Warum ich dies trotzdem kann, liegt eben genau im prägenden Einschlag meiner Mutter begründet, auf dessen Fundament überhaupt erst die Kopfnote ihr Lied spielen kann: Distanz und Herz – eine hochinteressante Mischung.

Als ich letztens eine schöne Entdecker-Tour auf Youtube startete, kam ich von TV-Werbespots aus den 80ern und 90ern über manchen Umweg auch zu damals gängigen Zeichentrickklassikern. Was sich bereits beim Werbespot-Zusammenschnitt durch einzelne Tränen andeutete, resultierte kurz nach Anklingen des Intros der Zeichentrickserie Nils Holgerson in geöffneten Schleusen. Ich kann mich so tief und voller Frieden in mir daran erinnern, als ich als kleiner Bub diese Serie im heimischen Idyl sah und meine Welt einhundertprozentig in Ordnung war. Dieses Gefühl kann ich stellvertretend für meine gesamte Kindkeit ohne Wenn und Aber bestätigen: ich hatte eine wahnsinnig behütete, liebevolle, friedliche, offene und kreative Spiel-Kindheit mit meinen Eltern und später dann auch Brüdern. Für mich bis heute das allumfassendste Gefühl von Idylle – und bislang unerreicht. Ganz sicherlich stellt dieses, für uns Kinder fein gewebte und mühsam erkämpfe, Idyll das Fundament in meinem Leben.

Als Kind der 80er gehöre ich zur ersten Generation von Nachkommen kriegsunerfahrener Eltern. Meine Großeltern tragen bzw. trugen ihre schweren Kriegserlebnisse mit sich, wie auch die belastende und entbehrungsreiche Nachkriegszeit. Diese Erlebnisse floßen auch sekundär in die Eltern-Kinder-Beziehung meiner Eltern und waren demzufolge unabdingbar prägend für diese, die als nicht unmittelbar vom Krieg Betroffene mit der Leidensqualität ihrer Eltern sekundär betroffen und dadurch auf besondere Art herausgefordert waren. Man kann den Verdienst meiner Eltern hinsichtlich der Qualität ihrer gelebten Rollen als Mutter respektive Vater dreier Kindern gar nicht groß genug schreiben, denn früh war durch viele, viele Gespräche bereits klar, dass deren Tramata nie einen harten Einschlag auf uns Kinder ausübte.

Sicherlich haben die Belastungen, die meine lieben Eltern zu erdulden hatten, Spuren hinterlassen und dadurch einen Einfluss auf meine Brüder und mich gehabt, aber gemessen an den -noch abgemilderten- Erzählungen meines Umfeldes über deren Leben, muss gesagt werden: Danke, dass wir eine so wahnsinnig tolle Kindheit fern von Leid und Übel hatten – ein großer Verdienst, eine große Leistung, ein gutes Karma, weil ihr die größten Energieblockaden Eurer Eltern bereits auflösen konntet.

Wenn ich mich an eine Erzählung erinnere, die irgendwann Anfang/ Mitte der Neunziger preisgegeben wurde, als ich als pubertierender Teenager Rebellentum und prinzipielle Unzufriedenheit für mich entdeckte, habe ich immer wieder Gänsehaut. Alkohol verändert Menschen nachdrücklich und für Manche werden raue Mengen – gerade wenn sie schwerste Alkoholiker sind – zum Schalter. Meine Ma hat als junges Mädel/ Teenager erlebt, wie der eigene Vater eines der Geschwisterkinder über das Balkongeländer eines mehrstöckigen Hauses hielt, um so Geld von der Ehefrau zu erpressen, er würde sonst das Kind fallenlassen. Schwer fassbar.

Jahrzehnte später erlebe ich meine Mutti – ausser zu ganz wenigen Familienfesten – nie auch nur im Ansatz ausufernd alkoholisiert und nie in irgendeiner Weise destruktiv uns Kindern gegenüber. Wie stark muss man sein, dass man es schafft, sich so konsequent und standhaft vom Vater abzugrenzen und verhaltenstechnisch in die Opposition zu gehen? Die Situation, so belastend und schlimm sie auch war, soll nicht im Fokus stehen, sondern der Weg meiner Ma, um solche Situationen im eigenen Leben eben nicht zu haben. Der Antiweg zu ihrem Vater als Alkoholiker war gleichsam unser positiver Weg ins Leben und damit ein großer Teil ihrer Lebensleistung. Ma, ich bin unglaublich stolz auf Dich und Deine tolle Rolle als Mutter und Deine liebevolle Lebensumfeldgestaltung von uns Kids. Ich bin mir sicher, dass Dein beruflicher Weg zur Kinderpflegehelferin gleichwohl eine Absage an Alkohol, Gewalt und der damit verbundenen Spiralen war und bestimmt ein wichtiger Baustein! Was ist die Hauptaufgabe dieses Berufsbildes? Eben.

Für meinen Vater gilt letztlich selbiges, auch wenn es bei ihm weniger der Alkohol als mehr der patriarchistische Vater war, dem er sich gegenüberstellen musste – für sich und letztlich für uns. Aus schweren Kindheitserlebnissen können starke Antriebe entstehen, um das eigene Leben aktiv positiv zu gestalten. Mir fehlt dies als Kind einer Idylle natürlich, aber ich weine diesem Umstand natürlich keine Träne nach, denn ich habe meinen ganz eigenen Weg zu gehen und meine eigenen Themen zu betrachten – in einem ganz anderen Umfeld.

Vielleicht ist also meine unterschwellige Distanz ein Resultat aus den Lebenserlebnissen meiner Eltern, vielleicht ist es eine charakterliche Eigenschaft, die den Weg der Vererbung gefunden hat – oder eben Prägung. Unter dem Strich bleibt jedenfalls kein Minus stehen und damit gibt es keine entsprechend belastete Haltung. Was bleibt sind schöne Erinnerungen und ein toller Startplatz für das Leben, welches ich mit Freude und viel Neugier immer wieder neu erkunde.

Am Ende meiner etwas ungewöhnlich verpackten Laudatio mag ein vorsichtiger Apell zur Reflexion ermutigen: die eigenen Eltern zu verurteilen ist der leichteste Weg zur Unverantwortlichkeit und stärkt den Weg zur Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. Wer sein Leben selbst in die Hand nimmt macht sich frei und erschafft damit den inneren Frieden, den man für die Lebenserfüllung benötigt.

Ein erfülltes Leben wünscht:
Stephan Keßler

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