Seit meinem letzten Blogbeitrag ist so viel Zeit vergangen, dass es sich manchmal anfühlt, als wäre es ein anderes Leben gewesen. Einerseits ist dem auch so, denn ich habe beruflich wie privat die Weichen für einen neuen Fahrweg gestellt, habe neue Menschen in mein Leben gelassen (was es auf allen Ebenen bereichert hat!), viele neue Erkenntnisse gesammelt, Entwicklungen durchgemacht und eben „das Leben gelebt“. Und doch ist es andererseits auch so, dass ich natürlich noch Ich bin, mit etwas mehr Farbe und Stabilität im Leben, mehr Freiheit, mehr Lebensfreude, aber dennoch mit alten Themen, Dämonen und Herausforderungen. Gestern sah ich ein Video auf YouTube, welches mir an zwei Stellen die Tränen in die Augen trieb und dadurch verdeutlichte, was ich zwar wusste, auch nicht vergessen hatte, aber nicht mehr so deutlich spürte/fühlte: ich habe Depressionen. Immer noch. Dann schauen wir da eben nochmal hin.
Video? Welches Video?
Moritz Neumeier, ein herausragender Stand Up Comedian, kritischer Denker, lustiger Podcaster und empathischer Mensch, dessen Humor sich oft und gerne an der Grenze bewegt, aber eben auch die Grenzthemen der Gesellschaft aufgreift und wie eine schallende Ohrfeige für die heuchlerische Gesellschaft daherkommt. Total mein Ding natürlich. Dass er seine Depressionen offen anspricht und den Kampf mit ihnen, macht ihn umso authentischer, aber auch greifbarer. Jedenfalls für mich. Viele Einstellungen teile ich und kann sie total nachvollziehen. Sicherlich auch, wegen der, vorsichtig gesagt, verbindenden Komponente. Wobei es hier nicht auf einen Vergleich ankommt, sondern darum, warum mich manches emotional so abholt. Denn da, wo man fühlt, passiert das Wesentliche.
Ich merke gerade, nachdem ich den letzten Satz schrieb, dass ich mich verwundert selbst, beobachte. Denn da, wo man fühlt, passiert das Wesentliche. Als Kopfmensch durch und durch, leuchtet mir das ein. Zerdenke nicht alles oder Nimm die Dinge an, wie sie kommen sind mir sehr bekannte Sätze. Außerdem krankt mein Weg ins fröhliche, unbeschwerte Leben allzu oft daran, dass ich nicht die Tür öffne, wenn das Leben davorsteht und klingelt. Manchmal kann ich nicht öffnen. Manchmal öffne ich, aber kann nicht mitgehen. Ja und dann kommt das Leben eben auf anderen Wegen zu mir und stupst mich an, so in Gestalt von Moritz mittels seines Videos „KOLLAPS.“. Zweimal sogar.
(Das Video ist am Ende verlinkt.)
Erster Stups: wie fühlen sich Depressionen an?
Wenn Eltern von Krankheiten betroffen sind, merken es Kinder sehr schell und sind (oft stille) Beobachter. Bekommt z. B. Papa einen depressiven Schub, merken sie es. Hieraus ergab sich für Moritz der Moment, wo er auf die Frage seiner Tochter – Papa, wie fühlen sich Depressionen an? – eine Antwort geben musste. Sobald Kinder fragen, sind sie bereit Antworten zu erhalten – in entsprechender, kindgerechten Sprache natürlich.
Moritz‘ Gedankenwelt zur Frage nötigte mich zur Videopause, weil er mir aus der Seele sprach und diese, vergessene? verdrängte? Erkenntnis lag als einzelne Zutat wieder auf meinem Teller:
„Wie soll ich auch nur anfangen, dir das begreiflich zu machen. Du bist fünf. Du wachst auf jeden Morgen mit dem Gefühl YEEEAAAAAAAAAAA. Und wieder ein neuer Tag voller Abenteuer. In meinem ganzen Leben habe ich das noch nie empfunden. Nie.“
Ich habe eine Weile gebraucht um die Emotionen zuzulassen. Deren Auslöser hatte ich sofort zuordnen können – blieb nur die Frage zurück, die in ihrer Simplizität und Trivialität, fast ein wenig provokativ anmutete: Und jetzt?
Ich stehe also morgens nicht mit Vorfreude auf den Tag auf, sondern tatsächlich neutral gestimmt – an guten Tagen. Ich fühle meistens nichts, wenn ich aufstehe. Für andere Menschen mag es glücklich-fröhliche Töne, angespielter Dur-Akkorde geben. An meinen normalen Tagen erklingt nichts. An schlimmen Tagen ist es Moll und an Horrortagen gibt es kein Klavier, kein Tag, keine Sonne, keine Freude, nichts Schönes.
Dennoch erlebe ich tolle und schöne Dinge an einigen Tagen. Ich muss aber auch kontinuierlich selbst Tasten drücken, die für mich gut klingen. Die Erkenntnis der letzten Jahre, insbesondere Monate, ist, dass ich gelernt habe stabil zu werden, zu bleiben, und die Tasten kenne, die mich glücklicher machen. Öfter angewendet wird es zur Routine und kann ganz schlimme Tiefphasen zumeist verhindern, insgesamt aber die Ausschläge, also die Amplitude der Wellen, abflachen. Für mich funktioniert das gut, aber es ist natürlich auch so, dass es zusätzlich noch von vielen anderen Faktoren abhängt. Einen Apfel zu essen, oder ne halbe Stunde raus zu gehen, reicht alleine nicht.
Reaktion auf den ersten Stups:
Ich mag meinen Blog aufleben lassen, um das Thema Depressionen wieder mehr zu beleuchten und naja, euch meine Tasten zeigen. Vielleicht stellen sie eine Bereicherung oder Hilfestellung dar oder sind einfach „nur so“ interessant, was auch völlig okay ist.
Zweiter Stups: ich bin etwas wert, aber es fühlt sich nicht so an.
Die letzte Frage an das Publikum lautete:
„Gibt es irgendjemanden hier, der heute Morgen aufgewacht ist […] und schon da gemerkt hat: Das ist nicht mein Tag […], heute ist so ein Tag, da fühle ich mich wertlos.“
Das hat mich sehr berührt, erreicht, betroffen gemacht, denn das ist bei mir an ganz, ganz vielen Tagen so. Und als Reaktion auf diesen Stups, der mir ein Fingerzweig ist, trage ich den Themenkomplex Selbstwertgefühl, Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühl wieder mehr in die Öffentlichkeit, gerade auch als Gegenentwurf zu den oberflächlich gelagerten Strömungen in unserer Gesellschaft, Social Media, als aber auch im beruflichen Kontext. Es wird viel zu viel bewertet und verurteilt und abgeurteilt und niedergeschmettert und sich lächerlich über Menschen gemacht. Ganz generell – ja, das ist eine Generalisierung.
KOLLAPS. – Moritz Neumeier
Glückliche Grüße
Stephan Keßler