Lieber Leser:innen, dieser Beitrag ist Teil 5 der Themenreihe Schienensuizid.
Der vorhergehende Beitrag ist folgender: Wenn die Welt still steht. (Teil 4)
Ich ertappe mich ab dem Tag, als mein Bruder seinen Lebensatem aufgab, mehr und mehr dabei, wie ich meinen Atem anhalte, um der schmerzvollen Wellen zu begegnen, die immer wieder heranrollen. Es heißt nicht umsonst Lebensatem, denn ich gerate in eine Spirale aus wegdrücken, Leben-Anhalten, kämpfen und portionsweiser Akzeptanz dessen, was geschehen ist. Welch‘ entlarvende Erkenntnis, dass durch völlige Verzweifelung ein Mensch sein Leben loslässt und ich es dadurch (trotzdem) nicht schaffe, meine Blockaden zu durchbrechen. Ebenso ist es mir unverständlich, warum ein so ausserordentliches Erlebnis das Bollwerk nicht zum Einsturz bringt – welche Kräfte halten alles zusammen? Wie muss man dem Begegnen? Ist es eine Typfrage? Also eine charakterliche Eigenschaft, ähnlich eines sortierten Kartenblattes, welches man auf die Hand bekommt, mit dem man nicht jede erdenkliche Gewinnerstraße auslegen kann? Oder liegt dem ein unbändiger Lebenswille zugrunde?
Erster Tag ohne ihn
Am Montag kommen nach und nach alle Geschwister meines Vaters sowie manche Freunde und Bekannte stärkend und stützend zusammen, stehen mal an seiner Seite und mal allein, selbst fassungslos, von Trauer ergriffen. Alle haben uns Jungs von klein auf erlebt und während des Älterwerdens begleitet. Wenn Menschen sterben, wird die Trauer anderer hörbar – das Atmen fällt allen schwer. Wer sagt, dass Körper und Geist nicht einander bedingen, lebt zweigeteilt oder einseitig. Ich selbst schwanke zwischen umfallen und stehenbleiben wie ein Boxer nach hartem Punch. Heute kommt mir diese Nehmerqualität gar nicht mehr wie eine Qualität vor, vielmehr wie eine lästige Eigenschaft, die ich heute bewusst loswerden will. Wieder legt das Leben mir eine Schippe Ballast oben auf, aber ohne Häme. Das Leben zwingt mich nicht, stehenzubleiben, das erkämpfe ich mir selbst.
Der Tag füllt sich mit Momenten, die nah am K.O. vorbeischlittern. Das Betreten seines Zimmers ist wie ein Schlag, der in die Knie zwingt, denn es ist lebensleer und wird es bleiben. Nichts wird sich hier mehr verändern, nichts hinzugefügt aus dem Leben meines Bruders. In diesem Moment kommt mir sein Zimmer vor wie ein Wimmelbild: ich schaue mich um und entdecke Dinge – nein: Erinnerungen – und jedes Mal ist es wie ein kleiner Cliffhanger einer Serie, weil man mit der überwältigenden Wahrheit und Tragik konfrontiert wird. Im Leben fehlt die dramatische Musik im Hintergrund, aber die braucht es auch nicht: es ist genug Tragik vorhanden.
„Hier ist kein Leben mehr. Mein Bruder ist nicht mehr.“
Mit jedem Mal, wo mir ein solcher Satz neuerlich bewusst wird, ist es wie eine Ohrfeige, die mich aufwachen lässt wie nach langer Trance oder Lethargie.
Rückzug in die Kontrollzone
Recht schnell wird mir klar: Es hilft nichts, Du kannst die Trauer nicht rauslassen: Kontrolle! Wenn man etwas (noch) nicht stehen (aushalten) kann, muss man es nicht. Aber früher oder später kommt man wieder an den Punkt, an dem man sich entscheiden muss, ob man es Jetzt tun möchte. Bei mir war damals nicht der Moment, an dem ich das Herausbrechen von Trauer auhalten konnte.
Wir streben auseinander, kämpfen mit der Nachricht, sprechen in Worthülsen miteinander, erleben Momente der Hilflosigkeit: was soll man tun?
Erstmal durchatmen, beobachten, da sein. Mit sich selbst sein, in sich hören und spüren – oder eben nicht. Trauerarbeit ist individuell.
Wenn Menschen nach langer Krankheit gehen, kann man sich langsam vorbereiten, innerlich Szenarien durchspielen und sich vieles vorstellen – quasi Regie beim eigenen, inneren Film halten und damit auch üben, womit man später umgehen muss. Doch wenn das Lebensende abrupt eintritt, gerade bei einem Suizid, kommen viele Fragen auf. Wählen Menschen den Freitod, hinterlassen sie nicht immer einen Abschiedsbrief, was bei Hinterbliebenen unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Manche Zurückgelassene berichten von Angst vor vorwurfsvollen Zeilen, die als Anklage ohne mögliche Nachfragen zurückbleiben. Andere hegen die zuletzt an sie gerichteten Gedanken wie einen Schatz, nehmen ihn als Anker wahr und manchmal bauen sie mit ihnen die gedankliche Brücke zu ihren Liebsten.
Das Videotagebuch der letzten Wochen liegt -von mir nach wie vor ungesehen- bereit zur Einsicht. Aber noch ist nicht die richtige Zeit dafür.
Die Kontrollzone bröckelt und Altes bricht heraus
Als Lokführer bin ich in unserer Familie der einzige mit diesem beruflichen Hintergrund. Während ich ansonsten immer gerne Zusammenhänge erkläre und Nicht-Eisenbahnern dieses oder jenes versuche näher zu bringen, bin ich an diesem Tag mit der Frage, ob man sich von Daniel noch am Sarg verabschieden könnte, überfordert. Ich bin im Hochstress, kämpfe mich schwerlich durch den emotionalen Trauertag, habe Schwierigkeiten, den Fokus eng zu ziehen, damit ich keine Katastrophen erzeuge. Ich weiß wie es ist, jemanden zu überfahren, mit allem, was dazu gehört. Gegenüber Eltern und der Familie -gerade in diesem Moment- reduziert man das Detailwissen auf minimale Gewissheiten und versucht zu erklären, dass der Aufprall schon tödlich war und er nicht leiden musste. Ich kenne die Strecke aus eigenen Fahrten und kann erklären, wie es sich grob abgespielt haben musste – eben ohne die Details. Später am Tag kommt die Frage auf, ob man ihn herrichten könne für eine Verabschiedung. Unser Bestatter antwortet vorsichtig, dass dies nur von einem Spezialisten möglich wäre, der weiter weg arbeitet und dies einen gewissen Mehraufwand insgesamt bedeute. Wir belassen es nach kurzer, einhelliger Beratung dabei, ihn nur einäschern zu wollen.
Die Bilder und Geräusche meines Personenunfalls kommen wieder und ich muss mich öfter absondern, um die beiden Erlebnisse voneinander getrennt zu halten. Ich möchte den Tod meines Bruders nicht auf emotionaler Ebene mit dem harten Lokführer-Lebensalltag verknüpft wissen. Es würde auch nichts vereinfachen – nur erschweren. Ich drücke den PU weg und konzentriere mich auf Erinnerungen mit meinem Bruder. So geht es den ganzen Tag über weiter.
Erinnerungslücken und der schlimmste Tag
An die Woche zwischen Todestag und Beisetzung habe ich fast keine Erinnerungen. Ich hatte mir eine Woche Urlaub genommen und wir besuchten uns familiär gegenseitig, um füreinander da zu sein. Ich vermute, dass ich innerlich so stark kämpfen musste, mit allem zurechtzukommen, dass ich mich heute nicht mehr an die einzelnen Tage erinnern kann. Ich könnte mich auch spontan nicht an das Datum seines Todestages oder der Beisetzung erinnern. Ich kann die Daten herleiten, aber es steht nicht in Hollywood-ähnliche Lettern in meinen Erinnerungen geschrieben, wie es bei den meisten anderen Menschen um solch‘ besondere Daten bestellt ist.
Als sich am Morgen des Tages der Beisetzung die ersten Familienmitglieder bei meinem Vater einfinden, um ihm auf dem bevorstehenden schweren Weg beizustehen, spürte ich das dortige Aufwallen von Gefühlen und tiefer Verzweiflung zeitgleich selbst. Die Angst vor dem Tag wächst und ich werde mir mehr und mehr der Möglichkeit bewusst, dass meine Kontenance fallen und ich damit kippen könnte. Was mir heute viel leichter fällt, war mir damals etwas Unmögliches: offen die eigene Trauer zulassen.
Auf dem Weg zur Friedhofskapelle spricht man sich gegenseitig Mut zu oder kommentiert alltägliches – wohl einerseits damit man mit seiner Trauer und der Stille nicht allein ist, andererseits weil der Stresspegel so zusetzt. Als ich in die Kapelle eintrete ist dies der zweite innere Niederschlag an diesem Tag … und wird nicht der Letzte bleiben.
Der Segen der Mitgestaltung
Da wir um die ablehnende Haltung des zuständigen katholischen Pfarrers wussten Selbstmördern eine kirchliche Trauerfeierlichkeit zu gewähren, hatten wir eine freie Theologin gebeten, die Trauerfeierlichkeit mit achtsamen Worten zu begleiten. Sie sprach mit allen nahen Angehörigen und zum Teil auch Freunden um sich ein Bild von Daniel zu machen. Ihre feine Beobachtungsgabe und hohe Empathie spiegelte sich in ihren sehr respektvollen, ehrlichen und gefühlvollen Texten wider.
Sie hat uns als trauernde Familie zu jeder Zeit ernst genommen und uns den Raum für Entscheidungen bereitet, damit wir die Bestattung und anschliessende Urnenbeisetzung aktiv mitgestalten. Im Nachhinein ein ganz wertvoller Weg zu einer, man tut sich schwer es zu sagen, aber eben auch schönen Abschiedszeremonie, die angefüllt war mit der Berücksichtigung Daniels‘ Interessen wie Musikgeschmack, Farbe der Kleidung und schöner Blumen.
Trotz des mitgestalteten Rahmens, des vorher Kümmerns und der Vorbereitungen: während der Trauerfeier selbst taumel ich wie gelenkt voran, fühle mich deplatziert, überfordert und so schmerzerfüllt, wie noch niemals zuvor. Die ausgewählten Musikstücke seiner letzten Playlist bewegen mich tief und die achtsam formulierten, sehr punktuell gewählten Worte der Theologin steigern meine Trauer und besänftigen mich zugleich, weil sie wahrhaft von und über Daniel spricht.
Auf dem Weg des letzten Geleits haben wir Daniel dahingehend geehrt, in dem wir seiner Lebenshaltung gefolgt sind: klare Worte, echtes Gefühl und ohne falsches Getue.
In bewusstem Gedenken und schöner Erinnerung
Dein Bruder
Die Themenreihe Schienensuizid besteht aktuell aus folgenden Beiträgen:
Teil 1: Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern.
Teil 2: Echos – wenn es immer wieder kommt.
Teil 3: Nachsorge und ein Thema, das bleibt.
Teil 4: Wenn die Welt still steht.
Teil 5: Die Last der unaussprechlichen Trauer. (dieser Beitrag)
Teil 6: Lebenshunger. Ein Podcast über (Schienen-)Suizid, Depressionen und Wahrnehmung.