Wenige Tage und Wochen nach den verheerenden und mitunter sintflutartigen Überschwemmungen wird mir als Nichtbetroffener mehr und mehr bewusst, was da eigentlich geschehen ist. Die Starkregenfälle haben uns knapp verfehlt und sind nur wenige Kilometer weiter vorbeigezogen, sehr zum Leidwesen einiger Dörfer, Städte und gar ganzer Landstriche. Schaut man sich die Berichterstattung an, bleibt man sprachlos zurück, kann das Ausmaß selbst nicht recht begreifen. Der Verstand weiß, dass ganz, ganz viele Menschen einen mehr als herben und mit Sicherheit lange nachklingenden Schicksalsschlag erdulden mussten und gleichwohl weiß man, dass man das nur nachempfinden kann, wenn man selbst betroffen ist. Ich weiß, wie Du dich fühlst. Selten ist ein Satz von Nichtbetroffenen unangebrachter. Interviewte Menschen finden kaum Worte um das Unfassbaren zu beschreiben, das Unausprechliche zu benennen und genau dies ist, was am Ende alles sagt. Während Menschen mit der Katastrophe kämpfen -glücklicherweise mit unzähligen hilfreichen Händen- erinnere ich mich meines eigenen Verlustes und schäme mich sogleich, denn andere haben es gerade schwerer. Ich merke, wie ich dem doch begegnen muss und wage den Versuch, passende Worte zu finden.
Verluste klingen nach, denn Schrecken verblassen langsam.
Auch wenn der Tod meines Bruders mittlerweile drei Jahre zurückliegt ist es, als wäre es erst wenige Wochen her. Einerseits fühlt es sich noch immer unwirklich an und andererseits steigt die Intensität der gefühlten Trauer, weil ich meine Schutzschichten um mich herum Lage für Lage abstreife. Berichten also Menschen davon, dass sie nahe Angehörige oder Freunde verloren haben, erinnere ich mich an meinen Bruder und der Fokus wechselt – vermutlich weil ich noch nicht abgeschlossen habe. Zeitweilig wirkt es wie ein Gummiband, wenn die Flutkatastrophe mal ganz nah und dann wiederum ganz fern ist, emotional unkontrolliert und unbestimmt. Der Kopf ist ganz oft bei den Menschen, die vor Trümmern stehen und auch bei den vielen Helfern, die selbstlos mit anpacken und in eine Form der Sekundärbelustung gleiten. Es wird in den kommenden Monaten und Jahren noch viel therapeutische Hilfe vonnöten sein.
Der Alltag erfordert es, dass ich oft aufkommende Erinnerungen und emotionale Ausbrüche wegdrücken muss. Manchmal weiß ich da noch nicht, ob es die Trauer um Daniel oder etwas anderes ist, denn einmal aufgemacht ist die Wunderkugel ein hartnäckiger Fokusmagnet. Ungeöffnet ist sie schlicht weniger hinderlich im Moment.
Stoppschild.
Spontan wollte ich in meinem Urlaub selbst als Helfer losziehen, doch nach kurzer, erfolgloser Recherche habe ich das Vorhaben drangegeben. Die Wut kam hoch, denn ich musste mich der Tatsache stellen, dass ich gar nicht die Kraft gehabt hätte, das aktuell zu schaffen. Geistig und seelisch schon, da ich in meinem Unternehmen selbst eine Traumalotsen-Schulung besuchen durfte und mich als stabil genug einschätze, mit dem Leid, welches man sieht, umgehen zu können. Sich einzugestehen, dass man sich aber ganz egoistisch und endlich um das zu kümmern hat, was einen selbst akut belastet, ist ernüchternd und schmerzhaft. Die sprichwörtliche Ent-Täuschung fegte meinen Wunsch, an dieser Stelle ein starker Helfer zu sein hinfort. Mein Körper trägt den weggedrückten Schmerz der letzten Jahre noch in sich, das merke ich an mangelnder Energie und vielen Wehwehchens. Getreu meinem selbst gepredigtem Motto „Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind.“ habe ich mich dann zerknirscht mit der Erkenntnis abgefunden, dass es Grenzen gibt. Akzeptanz.
Vor allem ist mir etwas niederdrückend klar geworden: Anspruch und Wirklichkeit sind zwei Spiele, die nicht immer im selben Stadion stattfinden müssen – da können Kontinente dazwischenliegen. Aber die Absage an eine Front ist nicht automatisch eine Absage an alle Fronten und so bleibe ich an der Kampflinie stationiert, an der ich sicher stehe, über die ich Bescheid weiß und mich mir selbst (und anderen) bereits beweisen konnte und musste.
Auch kleine Lichter spenden Trost.
Gestern erst antwortete ich auf einen weiteren Brief meines ehemaligen Lehrers und lustigerweise wird mir gerade bewusst, dass er es durch seine Lebenserfahrung und Weisheit immer noch ein wenig für mich ist, allerdings wird er sich selbst nicht so sehen wollen. Ich denke mir jedoch, dass jeder Mensch für jeden Anderen mal Lehrer und mal Schüler sein kann, auch ohne Rollenklischees! Zeigt uns die aktuelle Flutkatastrophe nicht genau das: manchemal ist man Helfender und manchmal der, dem geholfen wird?!
Mein Lehrer hat mir also ein Zitat geschickt, welches mich jetzt nochmal auf der emotionalen Ebene erreicht:
In der Weite des Meeres siehst du vielleicht die zurückgelegte Meile nicht,
Andrea Schwarz
aber sie ist gesegelt.
So tröstet ein wohl ausgewähltes Zitat darüber hinweg, dass ich mit mir selbst zu streng bin. Es muss weitergehen, es gibt immer Lösungen und wenn es richtig emotional weh tut, ist man genau da, wo man sein muss … denn an dieser Stelle liegt der Kram im Keller, der entrümpelt werden muss.
Ganz getreu dem bekannten Motto: Nach der gesegelten Meile, ist vor der zu segelnden Meile, mag ich mich wieder auf dem Weg nach vorne machen indem ich zurückschaue und mich an die letzte gemeinsame Unternehmung erinnere, die mich mit Daniel verbindet und mich erwärmt:
Große Höhlenbegehung.
Nach einigen spannenden Actionfilmen mit Höhlen als heimliche Hauptdarsteller und einer bekannten Pro7-Unterhaltungssendung, in der eine besonders schwere Höhlenerkundung zur Mutprobe wurde, waren Daniel und ich gleichermaßen angefixt: das ist unser Ding!
Da wir trotz aller Idealvorstellungen auch beide ein wenig Respekt und (natürlich) mehr noch Verantwortungsgefühl in uns tragen, suchten wir uns für die erste Höhlenbegehung eine kleine Grotte aus, um mal vorzufühlen. Falls dort eine Angstattacke zupackt, ist die gefühlte Lebensgefahr noch im beherrschbaren Rahmen und wer mit Daniel aufgewachsen ist weiß, wenn es hart auf hart kam, ging er an und manchmal auch über die Grenze hinaus … bis zuletzt.
Die Mariengrotte in Erpel -ein ehemaliger Bergwerkstollen von etwa 130m- sollte es sein und des Nachts erkundet werden. Unsere Aufregung, etwas Verbotenes zu tun (die Grotte ist verschlossen), war sicherlich größer als die Erkundung an sich, was uns am Ende allerdings nicht gestört hatte.
Ich erinnere mich an Spinnenweben, nasse Füße, stinkende Schuhe, eine Beule, leere Batterien und eine tolle Nachtaktion mit meinem lieben Daniel.
Ein Jahr später hast Du Deine letzte Grenze überschritten und bist vorausgegangen. Wie traurig, dass wir nur diese eine Grotte erleben konnten … hatten wir uns doch manches Abenteuer schon lebhaft ausgemalt.
Einfach traurig.
Ich wünsche allen Opfern der Flutkatastrophe weiterhin viele fleissige Hände, monetäre Unterstützung von allen Seiten, einen erfolgreichen, neuen Existenzbeginn und gute seelische, therapeutische und medizinische Unterstützung in diesen Zeiten.
Wenn die Trauer zur übermannenden Last wird und man nichts mehr hat, so bleiben doch Erinnerungen für den Moment und darüber hinaus der Mut doch weiterzugehen.
Allen viel Mut und Kraft.
Stephan Keßler
Begehung der Mariengrotte
Youtube: Die Mariengrotte in Erpel (ein Stück deutscher Geschichte)