Nachsorge und ein Thema das bleibt. (Teil 3)

Liebe Leser:innen, dieser Beitrag ist Teil 3 der Themenreihe Schienensuizid.
Der vorhergehende Beitrag ist folgender: Echos – wenn es immer wieder kommt.

Nach einem Personenunfall (PU) im Bahnverkehr besteht für Lokführer im Regelfall die Möglichkeit ein Nachsorge- und Betreuungsangebot in Anspruch zu nehmen. Dies variiert in Art und Umfang je nach Arbeitgeber und dessen Kooperationsportfolio – manches Eisenbahnverkehrsunternehmen bietet seinen Mitarbeitern gar selbst Hilfsangebote an oder hat entsprechend geschultes Personal inhouse. Trotz vieler guter Nachsorge-Möglichkeiten und der wachsenden Erkenntnis in der Eisenbahnbranche, dass es lange nicht mehr sinnvoll ist, einen Lokführer nach einem PU oder anderem schlimmen Ereignis weiterfahren zu lassen, gibt es leider immer noch zu oft die Meinung, dass psychotherapeutische Betreuung nicht nötig wäre – aus verschiedenen Gründen.

Erste therapeutische Nachsorge

In den Tagen nach dem Ereignis spreche ich mit mehreren Menschen ganz unterschiedlich darüber wie es mir geht, was passiert ist und wie es weitergeht. Glücklicherweise ist mein Unternehmen eines von denen, die Lokführern mit einem solchen Ereignis viel Verständnis entgegenbringen, Redebereitschaft signalisieren und natürlich zu einer professionellen, psychotherapeutischen Unterstützung motivieren. Ich nehme gerne an und der Kontakt wird seitens meines Unternehmens hergestellt. Für Eisenbahner gibt es speziell geschulte und auf deren Anforderungen spezialisierte Betreuungseinrichtungen, die die Nachsorge zusätzlich zu ihrer eigentlichen Tätigkeit durchführen: sie untersuchen die physische und psychische Tauglichkeit eines Eisenbahners. Dazu gehört eben auch zu prüfen, ob man nach einer therapeutischen Maßnahme wieder fit für die Lok ist.

Nach einem persönlichen Gespräch vor Ort nutze ich die telefonische Nachbehandlung, weil ich zur Wahrnehmung mit dem Regionalexpress hätte fahren müssen und es mich nicht in die menschenüberfüllte Großstadt zog. Im Nachhinein bin ich mit dieser Entscheidung zufrieden, dies mag aber jeder nach seinem eigenen Bauchgefühl entscheiden. Die Gefahr besteht eben, dass man eine Rückzugsmentalität an den Tag legt und dieser nachkommt.

Die Gespräche halfen mir, die Faktoren der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu erkennen, die bei mir vorlagen, um diese dann Stück für Stück abzuarbeiten. Da bin ich ganz Listenmensch: eins nach dem anderen und dann abhaken. Krankschreibungen laufen oftmals bis zu 4 oder mehr Wochen, um den Lokführern die Zeit und Ruhe zu geben, die sie brauchen, um dem erlebten zu begegnen. Manche Kollegen fahren wenige Tage später wieder, andere sind monatelang krank: ein besonders schlimmer Fall eines überfahrenen Kindes. Welch ein Glück, dass wir mehr und mehr in einer Zeit ankommen, wo die Männer- & Kerle-Mentalität abgelegt wird und man solche Erfahrungen achtsam und professionell behandelt. Wer keine PTBS hat und keine Nachwirkungen verspürt, kann und will meist schnell wieder auf die Lok und seinen Dienst tun. Da es allerdings immer mal wieder Berichte von Lokführern gibt, die nach mehreren Personenunfällen plötzlich zusammenbrechen halte ich einen zu vorschnellen Einsatz für kritisch. Das eine oder andere Auffanggespräch kann jedenfalls nicht schaden, davon bin ich überzeugt.

Eine offene Gesprächskultur

Ich selbst bin in meinem Umfeld offen mit dem PU umgegangen und auch im Job habe ich proaktiv Gespräche mit anderen Kollegen gesucht.

Den Tod totzuschweigen kann nicht funktionieren, wenn man das Leben leben will – beides ist untrennbar miteinander verbunden.

Durch die vielen Gespräche habe ich viel interessantes erfahren, so von einer Kollegin für Arbeitsschutz, die selbst recherchierte und feststellte, dass Statistiken über PUs selten und schwer zu finden sind.

Statistisch gesehen überfährt jeder Lokführer 2-3 Menschen in seinem Berufsleben.

Bei einem sind sich Bahn- und Medienwelt überdies einig: die öffentliche Berichterstattung ist auf das minimalste reduziert und es gibt auch bei den Rettungskräften kaum detaillierte Hinweise zu den Einsätzen, die sonst recht klar und informativ gehalten sind. Bei meinem PU hat man lediglich erwähnt, dass man eine Straße gesperrt hatte, um eine Unfallstelle abzusichern; alle weiteren Aufgaben wurden verschwiegen.

Ich bin hier geteilter Meinung: das Problem der Suizidalität erhält kein Forum, steht nicht in der medialen Berichterstattung prominent im Fokus und ist damit immer noch ein Tabu-Thema. Kaum jemand traut sich zuzugeben, dass er suizidal ist, weil er nicht mehr kann – aus welchen Gründen auch immer. Wir müssen alle miteinander lernen, wertfrei mit solchen Menschen umzugehen, und ihnen einfach helfen. Die Hilfe an sich kann unterschiedlich ausfallen, eben wie verschieden das Krankheitsbild ist oder was die Gründe für die große Verzweiflung sind. Wenn dadurch ans Tageslicht kommt, wie viele Menschen wirklich unglücklich sind, wäre das zumindest ein klares Indiz dafür, dass sich Dinge im großen Maßstab ändern müssen. Auch das könnte man gemeinsam bewerkstelligen.

Stelle Dir vor, die Polizei steht an Deiner Tür und teilt Dir mit, dass jemand den Du liebst den Freitod gewählt hat. Manche Menschen verstecken es so gut, dass es die Angehörigen nicht bemerken. Ich bin überzeugt: mit einer anderen Art des Umganges mit Lebenskrisen, hätten wir viel weniger kranke und ausgebrannte Menschen, weniger Suizidalität, weniger letzte Auswege und unsere Gesellschaft wäre viel wärmer, hilfsbereiter und entwicklungsfreudiger.

Hilfe zu benötigen ist keine Schwäche. Schwäche ist, wenn man anderen nicht hilft, weil der eigene Egoismus dem im Weg steht.

Täter, die keine Täter sind

Wenn die öffentliche Diskussion von den Stimmen jener angeheitzt wird, die ihre eigene Engstirnigkeit zur Schau tragen und anscheinend keine Hemmschwelle besitzen, die eigene Bequemlichkeit über den Wert eines Menschenlebens zu stellen, ist man selbst vor der großen Herausforderung, seine eigene Hemmung stabil zu halten. Während ich mich in meiner aktiven Lokführerzeit in der Anreise zu einer Schicht im ICE befand, gab es plötzlich eine Erschütterung und nach harscher Zwangsbremsung einen knapp 2 1/2-stündigen Stillstand. Ein Personenunfall hatte sich ereignet und dies wurde auch so durchgesagt. Die Stimmen mancher Reisenden waren teils genervt, teils anteilnehmend, teils erschrocken, teils neutral. Eine Stimme tat sich jedoch dadurch hervor, indem sie sich in Rage sprach und über den Ausfall des hochwichtigen Geschäftstermins jammerte, der nun großen finanziellen Schaden anrichtete und welcher Idiot ihm persönlich das Leben gerade versaue und warum der Lokführer nicht einfach weitergefahren wäre, zu retten wäre ohnehin nichts mehr gewesen. Man müsse die Familie verklagen, weil sie dafür zu sorgen gehabt hätte, den Vollidioten in eine psychiatrische Einrichtung einzuliefern. Sowas merke man doch.

Sicherlich ist die Wartezeit nervig, das Umsteigen auf den Ersatzverkehr, die überfüllten Alternativen und die Verspätung zum eigenen Dienst oder Termin: ich war ja auch betroffen. Aber ein Mensch ist gestorben, auf eine so endgültige, brachiale Art und Weise, die Sinnbild seiner endgültigen Verzweiflung ist. Wie weit muss es mit einem selbst gekommen sein, wenn man diesen Lebensausweg eines Mitmenschens als reine Störung der eigenen Befindlichkeiten und Entfaltung wahrnimmt?

Jemand der sich selbst tötet ist für mich kein Täter, der einem Lokführer das Leben erschwert – oder welcher anderen Berufsgruppe auch immer. Leider taucht diese Wahrnehmung ab und an auch in meiner Branche auf, glücklicherweise aber eher vereinzelt. Ich denke, wir werden alle zu verschiedenen Zeiten mit einer zu treffenden Entscheidung konfrontiert und haben die Wahl, was wir tun wollen. Ich versuche lieber mich aktiv einzubringen auf meine Weise, meine Art und mit meinen Möglichkeiten, als einfach zu schweigen oder meckernd mein Leben zu bedauern, dass nur belastet ist von Störungen, Ungerechtigkeiten und Verletzungen anderer Leute.

Besonders der Freitod des bekannten Bundesliga-Fußballers Robert Enke 2009 hat gezeigt, wie kontrovers das Thema diskutiert wird. Leider gab es viele Nachahmungen von Menschen, die durch Enke selbst den Mut gefunden hatten, den letzten Schritt zu tun. So tragisch dies ist, muss doch dennoch der Fokus darauf liegen, die Ursachen zu erkennen, anstatt das Thema totzuschweigen.

Jeden Tag hat jeder die Option, sich zu entscheiden!
In meiner Utopie stehen wir alle Seite an Seite und jeder schützt jemand anderen, damit niemand fällt, vom Weg abkommt oder erfriert. Pinguine leben dieses Prinzip schon seit Jahrtausenden.

Mein Weg danach

Ich bin nach meinem Ereignis weiter den Weg gegangen, den ich Monate vorher schon begonnen hatte: der schleichende Wechsel intern in die firmeneigene Lokführerschule, um Lernmaterial zu erstellen, multimediale Inhalte zu produzieren und als Autor für E-Learning meine bisherigen Lebensabschnitte in Einklang zu bringen. Ich habe weiterhin viel Kontakt mit der Eisenbahn, bin in Bahnhöfen gewesen, habe auf und an Zügen gearbeitet und keine meiner Entscheidungen bereut.

Und jedes Jahr an diesem Tag gedenke ich des Todestages des jungen Mannes, der eine Lücke im Leben anderer hinterlassen hat, die nie wieder gefüllt werden wird.
Möge sie heute nicht mehr so klaffend sein, wie an diesem, dunklen Tag!

Man vergisst solche Erlebnisse nicht, aber darum geht es auch nicht, denn Sie sind geschehen und verbleiben in der Erinnerung. Nach erfolgreicher Aufarbeitung ist das Thema allerdings kein belastendes Thema mehr, weil es nicht mehr wie ein Magnet die Aufmerksamkeit an sich zieht. Spirituell ausgedrückt: ist ein Thema aufgelöst, ist die Erinnerung keine energetische Blockade mehr. Beispiele für dieses Wirkprinzip gibt es unzählige und jeder wird bei sich ein solches finden.

Lasst uns alle aufmerksamer durchs Leben gehen und auf andere achtgeben. Dadurch gibt es automatisch genug Leute, die auch auf Dich achtgeben …

Stephan Keßler

Die Themenreihe Schienensuizid besteht aktuell aus folgenden Beiträgen:

Teil 1: Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern.
Teil 2: Echos – wenn es immer wieder kommt.
Teil 3: Nachsorge und ein Thema das bleibt. (dieser Beitrag)
Teil 4: Wenn die Welt still steht.
Teil 5: Die Last der unaussprechlichen Trauer.
Teil 6: Lebenshunger. Ein Podcast über (Schienen-)Suizid, Depressionen und Wahrnehmung.

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