Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern. (Teil 1)

Liebe Leser:innen, dieser Beitrag ist der Beginn der Themenreihe Schienensuizid.
Am Endes dieses Beitrages ist der nachfolgende Beitrag verlinkt.

Es ist halb zwei Uhr nachts und die letzte Schicht eines zehntägigen Zyklus als Lokführer im Güterfernverkehr quer durch Deutschland beginnt. Es ist eine Nach-Hause-Schicht, also eine, deren Zielbahnhof für mich örtlich günstig liegt, denn ich komme schnell heim und kann dann meine Ruhe geniessen. Meine Lieblingsstrecke liegt vor mir, vorbei an einem Fluß auf dem sich Nachtlichter auf der Oberfläche spiegeln, tollen Landschaften, unaufgeregt, ereignislos aber schön. Ereignislos ist für einen Lokführer normalerweise der Idealfall: alles geht gut, es treten nur minimale Abweichungen vom Regelbetrieb auf und schon gar keine Unfälle. Gegen Ende meiner Schicht wird es ein Ereignis geben und nichts wird gut.

Dienstbeginn

Ich beginne meinen Dienst in einem Rangierbahnhof, den man gnädig verschlafen nennen könnte aber seitens Güterverkehr recht gut frequentiert ist. Es ist diese surreale Stimmung, die sich ergibt wenn kalte Kunstlichtstrahler die Gleislabyrinthe in unwirkliches Licht taucht, während kaum eine Bewegung auszumachen ist. Ab und an rollt ein Zug scheppernd, quietschend und klackernd vorbei, während man mit seinen Augen immer wieder routiniert alle Richtungen abcheckt, damit man nicht unter die Räder kommt. Je nach Windrichtung und Baureihe, kann man selbst heranfahrende Loks leicht überhören. Der Zug, den ich weiterfahren soll ist schon da und hat auf einen ankommenden Zug gewartet. Während ich mich auf dem Weg zu meinem Zug befinde, findet die Übergabe zweiter Lokführer statt, die den Wagenzug miteinander tauschen. Der volle Zug wird hergebracht und man nimmt den leeren wieder mit zurück – aus unserer Sicht. Mein Kollege und ich besprechen unsere Übergabe, fachsimpeln etwas, tauschen Erfahrungen aus, halten ein wichtiges Schwätzchen. Lokführer sind oft alleine und Kontakte werden genutzt, um sicher zu gehen, dass man die deutsche Sprache nicht ganz verlernt.

Meine Schicht wird aus regulär zu fahrenden Zügen bestehen, ohne Besonderheiten, Lokwechseln, Rangierarbeiten, Lotsentätigkeiten oder Anschlussbedienungen. Einen Leerzug voller Kesselwagen zurück zur neuerlichen Befüllung zu einem Chemiewerk bringen und dann einen vollen Zug wieder mit zurücknehmen. Die Strecke ist bekannt, die Lok auch, man kennt die Leute, mit denen man sich abstimmt – Routine. Weil jeder Handgriff sitzt und man weiß worum es geht, muss man sich nochmal extra konzentrieren. Routine kann auch gefährlich werden: wenn wir nicht aufpassen, fahrlässig handeln, können Menschen sterben. Niemand will das.

Abfahrt

Nach dem ich dem Fahrdienstleiter meine Abfahrbereitschaft mitgeteilt habe, gehen mir Gedanken durch den Kopf. Am Anfang meines Zyklus habe ich Kollegen abgelöst, die wegen eines Personenunfalls ausgefallen waren und mir fiel die Aufgabe zu, nach Freigabe der Lok diese im Bahnhof abzustellen. Eine unglückliche Überrollung mit Todesfolge während geringer Geschwindigkeit. Es war dunkel, das Stück schlecht beleuchtet und die (wohl alkoholisierte) Person lag kauernd im Gleis: keine Chance. Wie würde ich reagieren? Was geht den Kollegen durch den Kopf?

Ich werde unterbrochen, denn mein Signal springt auf Grün und es kann losgehen – auf zur letzten Schicht. Bald bin ich zuhause und kann mich ausschlafen. Der Wechselschichtdienst setzt meiner Schlafqualität zu und die viertägige Ruhe am Ende der 10 Tage wird nicht selten mit einer langen Schlafphase eingeleitet; natürlich je nach dem, wann man zuhause ist. Während ich die Strecke abfahre, den Fahrplan im Auge habe um auf Geschwindigkeitsänderungen bestmöglich zu reagieren und dabei weiterhin die Strecke beobachte, gehe ich die vor mir liegende Schicht nebenbei durch. Wann bin ich wo? Wann muss ich jemanden informieren, dass ich im Zulauf bin? Wer sagt mir, wo mein nächster Zug steht? Wo stelle ich den aktuellen Zug ab?

Ereignis

Eine Linkskurve steht an und die Spitzenlichter meiner Lok leuchten in die Ferne, ohne etwas wirklich zu erhellen. Eine Bundesstraße, ein paar dunkle Gebäude, einige Bäume. Durch die Bogenfahrt knarzen die Federn im Drehgestell, die dieses wieder in den Geradeauslauf ziehen wollen. Es hört auf, als der Bogen durchfahren ist. Als die Spitzenlichter wieder das Gleisbett erreichen, erhebt sich vor mir mitten im Gleis eine Gestalt und streckt die Arme seitlich von sich. Im grellen Scheinwerferlicht sehe ich, wie der junge Mann lächelt.

Was folgt ist vielschichtig, denn ich erlebe alles aktiv als Betroffener und Beobachter zugleich. Man handelt nach einer Schrecksekunde automatisiert, reisst durch -führt also eine Schnellbremsung aus- betätigt parallel den Sandtaster um die Bremsung zu unterstützen und legt den Traktionswahlschalter in die Nullstellung. Die Fahrmotoren schalten bei einer Bremsung grundsätzlich die Leistung ab, aber man lernt es so und der Automatismus greift.

Die nachfolgende Beschreibung des Ereignisses ist realitätsgetreu und entspricht den Fakten. Wer diese Information nicht lesen möchte, überspringt diesen Teil bitte.
Den Aufprall bei etwas über 80 km/h auf einen Menschen spürt man auf einem Triebfahrzeug, wie ich es steuerte, nicht. Das Geräusch währenddessen bleibt jedoch haften. Das Geräusch, während ein Mensch stirbt. Ich habe es heute noch im Ohr.

Da er mitten im Gleis stand, wird er sofort unter die Lok gezogen und von den Rädern überrollt; die Lok wiegt etwas über 80 Tonnen und bei vier Achsen macht das 20 Tonnen Last pro Rad. Es gibt mehrere Schläge im Drehgestell und unter der Lok; Kies wird aufgewirbelt und es vibriert bei den Überrollungen.
Auch dies klingt nach.

Es beruhigt mich heute zu wissen, dass er da schon längst tot war. Ein später stattfindenes Gespräch mit der Notärztin bestätigt: der Aufprall an sich war tödlich.

Nach wenigen hundert Metern komme ich zum Stehen und Stille kehrt ein, doch die Geräusche bleiben. Ich zittere, denn mein Körper ist voller Adrenalin – ein Schock. Nach wenigen Sekunden atme ich durch, nehme die linke Hand vom Traktionshebel und greife nach dem Telefonhörer. Ein kurzer Blick auf den Fahrplan sowie nach draussen und ich kenne meine Position. Ich bin mir trotzdem nicht sicher – ein merkwürdiges Gefühl. Ich drücke auf Notruftaste am Zugfunkgerät und bemerke, wie die Zeit langsamer läuft und ich mich wie durch Watte beobachte. So fühlt sich es sich also an. Ein Gefühl des Kontrollverlustes steigt in mir auf -Angst oder Panik- ich drücke es weg und beobachte den Aufbau des Notfallgespräches am Zugfunkgerät. Als die Verbindung steht, fällt mir das relevante Wort nicht ein. Ich atme durch, werde nervös, die Panik will wieder durch, aber ich atme nochmal und beginne den auswendig gelernten Text. Diesmal fallen mir die Wörter ein:

„Betriebsgefahr. Alle Züge zwischen Meldestelle A und Meldestelle B sofort anhalten. Ich wiederhole: Betriebsgefahr. Alle Züge zwischen Meldestelle A und Meldestelle B sofort anhalten. Hier Lokführer des Zuges 12345. Grund ist ein Personenschaden.“

Nothaltauftrag

Echos

Ich beende manuell die Verbindung, lege auf und warte auf den Rückruf des Fahrdienstleiters. In der folgenden Stunde laufen zwei Welten parallel nebeneinander ab, die zwar Berührungspunkte haben, aber in sich geschlossen sind. Zum Einen der betriebliche Ablauf und das Eintreffen von Feuerwehr, Notarzt, Notfallmanager und Bundes- sowie Landespolizei. Zum Anderen das Innenleben, welches auf Anschlag läuft. Der Körper baut das Adrenalin nur langsam ab, ich versuche mich immer wieder neu zu fokussieren und mich im Hier und Jetzt zu halten. Die ersten Gedankenkreise ziehen los. Die Geräusche kommen in Echos zurück.

Die zuständige Ersthelferkraft meines Arbeitgebers hält Kontakt mit mir und ist die einzige menschliche Stimme, die mit Gefühl zu mir redet. Alles andere läuft automatisiert, routiniert, fokussiert. Rettungskräfte müssen sich schützen, um professionell zu arbeiten: es ist okay so, aber es belastet auch ein wenig. In Verbindung mit dem Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, der geschäftigen Emsigkeit der arbeitenden Kräfte fühle ich mich unnütz und fehl am Platz – vor allem aber allein. Alle haben ihre Aufgabe … nur man selbst nicht mehr. Ich suche mir kleine Beschäftigungen, um nicht tatenlos herumzusitzen. Vielleicht auch um sich vom Grübeln abzuhalten. Kurzwegspeicher sperren, ein paar Notizen machen, bevor man was vergisst, ich packe meinen Rucksack, checke das Dienst-Tablet, prüfe zum dritten Mal, ob ich den Zug korrekt gesichert habe – völlig sinnlos, denn die Zwangsbremsung wirkt noch. Ich stutze, aber dann geht mir auf, dass ich eine Sifa-Zwangsbremsung hatte, also während oder nach dem Ereignis den entsprechenden Fußtaster nicht mehr betätigte. Der Stress blockiert meine Denkfähigkeit – Angst steigt wieder auf und ich prüfe nochmal sichtlich, ob die Bremse noch anliegt. Später recherchiere ich, dass dieses Verhalten während ungewohnter Stresssituationen normal sei.

Die Feuerwehr spritzt die Lok vorne ab, während die Notärztin auf die Lok kommt und mir mitteilt, dass jede Hilfe zu spät kommt, mich fragt, wie es mir geht und ob ich Hilfe bräuchte. Ich lehne ab und führe ähnliche Gespräche mit anderen Einsatzkräften. Durch die Gespräche mit meiner Ersthilfekraft kann ich mich erden, fokussieren, sammeln, mich konzentrieren. Sie erklärt Abläufe, Vorgänge, redet etwas mit mir, kümmert sich. Wichtig, in solchen Momenten. Manchmal braucht es nicht viel, um sich gut betreut zu wissen. Wochen später bedanke ich mich bei ihr für die Art und Weise, wie sie es gemacht hat und bestätige, was sie noch nicht wusste: sie macht es gut und es hilft Betroffenen.

Nachdem die Rettungskräfte abgezogen sind stellt sich seitens Notfallmanager die Frage, wer den Zug wegfahren kann, um die Strecke wieder freizumachen. Schlußendlich findet sich jemand, der das tut: ich jedoch nicht mehr. Nach Ankunft im nächstmöglichen Abstellbahnhof wird der Zug gesichert und das für mich bestellte Taxi trifft ein. Es geht auf direktem Weg nach Hause

Nachwirkungen

Als ich im Taxi sitze, bin ich wieder nur Beifahrer – alles funktioniert – ohne mich. Das Adrenalin ist abgebaut und eine starke Müdigkeit kommt auf, ich schließe gewohnt die Augen, um mich auf der Rückfahrt auszuruhen. Das Gesicht des Mannes veranlasst mich sofort, wach zu bleiben. Die Geräusche werden stärker, allerdings ist das Panikgefühl nicht mehr so stark. An dessen Stelle erwächst etwas anderes, was ich noch nicht ganz zuordnen kann. Eine Träne entweicht mir und ich wundere mich. Ich habe keinen Fehler gemacht, die Situation war nicht anders zu lösen, die Entscheidung desjenigen, der den Freitod wählte war klar. Was belastet mich?

Auf der weiteren Fahrt stelle ich mir vor, wie ich zuhause ankomme und reagiere. Noch weiß niemand etwas, ich komme nur etwas früher als geplant und werde auf meine Familie treffen, die sich für Schule und Alltag fertig macht. Der Kleine ist noch zu jung, um das Ausmaß zu begreifen: also Kontrolle beibehalten und müde wirken. Wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, wird es glaubwürdig sein. Die Geräusche belasten.

Ich stelle mir vor, wer die Aufgabe übernehmen muss, die Hinterbliebenen aufzusuchen, um Ihnen zu erzählen, dass sie vergeblich auf einen lieben Menschen warten werden. Irgendwo wird eine Familie, ein Paar, ein Freundes- & Bekanntenkreis in Trauer fallen, die Leben werden sich ändern. Viele Fragen werden gestellt werden. Mich persönlich betreffen die Gründe, warum er den Freitod wählte, nicht, denn wir hatten keine Verbindung. Es war seine Entscheidung, aus größter Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit den finalen Ausweg zu wählen. Was auch immer nötig war, um zu so einer Entscheidung zu kommen: es muss großes Leid gewesen sein, in ihm und vielleicht auch um ihn. Ich habe keine Wut oder Zorn auf ihn, nur Mitgefühl für seine Seele und die Angehörigen.

Daher versuche ich achtsam mit dieser Situation umzugehen und anderen zu helfen, falls es sich ergibt. Wir müssen über solche Dinge sprechen, durch Offenheit eine Kultur des Tabulosen erreichen. Verzweiflung ist nichts, wofür man sich schämen muss. Wir alle haben durch unser Erlebtes Päckchen zu tragen.

Gemeinsam getragen sind Päckchen leichter.
Stephan Keßler

Die Themenreihe Schienensuizid besteht aus folgenden Beiträgen:

Teil 1: Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern. (dieser Beitrag)
Teil 2: Echos – wenn es immer wieder kommt.
Teil 3: Nachsorge und ein Thema das bleibt.
Teil 4: Wenn die Welt still steht.
Teil 5: Die Last der unaussprechlichen Trauer.
Teil 6: Lebenshunger. Ein Podcast über (Schienen-)Suizid, Depressionen und Wahrnehmung.

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2 Antworten auf „Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern. (Teil 1)“

  1. Ich bin zufällig auf diesen Beitrag gestoßen. Jetzt sitze ich hier und die Tränen laufen.
    Vor Jahren hat sich eine Freundin vor einen Zug gestellt. Was blieb, war Fassungslosigkeit.
    Aber tatsächlich auch Gedanken an den Lokführer

    1. Liebe Petra, danke für Deine Worte.
      Ich kenne das Gefühl sehr gut, begleitet es mich doch auch schon länger. Falls Du die Beitragsreihe weiterliest wirst Du erfahren, warum (mag nicht spoilern oder triggern …).
      Da kommen viele Emotionen hoch, viele Bilder, Gedanken … wie begegnest Du ihnen?
      Lg
      Stephan

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