Fragte man mich heute, welche Herausforderung während der bisher erlebten (und bislang überlebten) Corona-Pandemie mich die meiste Kraft, die größten Nerven und längste Kondition erforderte, so ist meine Antwort klar: Kontenance zu wahren. Als die ersten Berichte einer neuen viralen Infektionskrankheit aufkamen, hat man recht verhalten Nachrichten interpretiert und gehofft, dass es schon alles nicht so schlimm kommen wird. Bekanntlich irrt man sich im Leben und manches ist auch nicht vorherzusagen, auch wenn dies viele Menschen von anderen gerne einfordern. Spätestens als klar war, dass eine große Pandemie durch die Bevölkerung zieht und man teils zu unangenehmen Konzepten greifen muss, um eine unkontrollierte Seuche zu vermeiden, stellt sich heraus, dass man fast weniger sprachlos wegen der vielen Toten und Menschen mit Spätfolgen ist, als vielmehr wegen des Verhaltens großer Teile unserer Gesellschaft.
Der Makel, der ans Licht kommt.
Wie bitter doch die Erkenntnis schmeckt, dass wir als Hochtechnologieland im weltweiten Vergleich mehr und mehr an Boden verlieren, als Bildungs- & Kulturgesellschaft dennoch zu rücksichtslos opperieren und dann erleben müssen, wie Menschen Vergleiche mit der Nazi-Zeit ziehen, die große Dikatur kommen sehen und schon Bürgerkriege erhoffen – oder eben das große Sterben. So strapazierend kann Meinungsfreiheit sein, fast schmerzvoll. Um diesen Bissen zu verdauen, braucht es mehr als einen kühlen Schnaps.
Es kommt einem vor, als wären polemikstarke Schlagzeilen lebendig geworden: Mädels, die sich als eingesperrte Sophie Scholl wahrnehmen, der freiheitlich ausgerichtete Widerstand verteilt Flugbätter-Parolen über Facebook, Twitter und ähnliche Medien, Freiheits-Guerillia-Kämpfer und Kämpferinnen boykottieren und bekämpfen eine Staatsmacht, die sie auf dem Weg in die Diktatur wähnen und religiöse, spirituelle, esoterische oder wahnvorstellungsschwangere Menschen emotionalisieren und empören sich derart, dass man an den Emporstieg des Bösen denken mag – oder die Apokalypse.
Vielleicht haben wir den Anschluss an die technologische Weltspitze noch nicht ganz verloren, aber eine sehr große Bevölkerungsanzahl ist ganz offensichtlich wieder im Mittelalter angekommen, anders kann man sich diesen hanebüchenen Aberglauben nicht mehr erklären.
Die eigene Über-Hebung.
Schon der Versuch, das aktuell Erlebte -Entschuldigung: erduldete Leid- mit jenem aus der Nazi-Herrschaft, in welcher Form auch immer, gleichzusetzen ist eine Ohrfeige für alle Opfer des Nazi-Terrors, also denen die damals gelebt und sprichwörtlich gelitten haben. Zugleich ist es eine weithin schallende Eigenohrfeige und peinliche Selbstoffenbarung: es fehlt an Bildung und Geschichtswissen. Für Menschen in Deutschland ist dies -aus meiner Sicht- eine so unaushaltbare Entgleisung, dass ich dagegen aufstehen muss, um ein Stoppschild hochzuhalten: hört auf mit dem Dummfug!
Damals lagen in Ghettos verhungernde und an Krankheiten sterbende Kinder im Straßendreck, Menschen wurden zu Millionen ermordet und SS-Ärzte hatten keine Skrupel, Experimente an Menschen zu machen – Erwachsenen wie Kindern – um nur einige Beispiele zu nennen. Eine Gesellschaft, die so von Menschenhass durchzogen, so überzeugt von der eigenen Herrlichkeit war und die den Anspruch auf die Weltführung über das Heil anderer Menschen/ Rassen gestellt hatte, ließ Widerstand überhaupt nicht zu. Damals war eine gleichgeschaltete Presse noch etwas ganz anderes, denn es gab zur Hochzeit keine Alternativmeinung mehr, nur propagandistische Berichterstattung. Wer aufklären wollte, musste Flugbätter verteilen und damit sein Leben aufs Spiel setzen. Wie kann man denn bei unserem heutigen Bildungs- & Informationsangebot zu einem solchen Vergleich kommen? Wer wird denn bitte in einen düsteren Keller verschleppt, wo er stundenland mit Stöcken und Gürteln verprügelt wird? Was noch die humane Variante war; viele sind ganz einfach umgebracht worden.
Ist diese engstirnige, ignorante und gerade nicht von Weitblick gekennzeichnete Sichtweise ein das Kriegsende überdauertes Relikt damaliger Ideologie oder der möglichst wirkungsvolle und viel mehr häßliche Versuch, das eigene unsägliche Leid so unaushaltbar wie möglich darzustellen?
Die vermeintliche Machtelite.
Ich habe selbst lange Diskussionen mit einigen Menschen in meinem direkten Umfeld geführt, groß gestritten, emotionale Hochs und Tiefs erlebt und die eine oder andere Freundschaft ist hart auf Anschlag gegangen. Vor Corona war meine Meinung über andere Menschen, wenn man es auf Denkvermögen, Kritikfähigkeit und Entwicklungsfreudigkeit begrenzt, ziemlich positiv und ich war optimistisch hinsichtlich einer gelebten Feedbackkultur und auf es geht in die richtige Richtung eingestellt. Dann kam Corona, ein paar Einschränkungen wie Lockdowns und ich sah mich einer zuteils wilden Meinungshorde gegenüber, die mich eines Besseren zu belehren versuchte. Ich würde ja irgendwann aufwachen und dann wäre alles zu spät usw. – ja, so naiv war ich.
Im Grunde hätte man ruhig bleiben, besonnen handeln und sich wissenschaftlich orientieren können -also auf breiter Ebene- und wir wären noch besser durch die Krise gekommen. Allerdings haben wohl einige Menschen endlich die Chance ergriffen, gegen ein Regime aufzustehen, dass diese über Jahre hinweg übervorteilt, hinters Licht geführt, belogen und ausgenutzt hatte. Dagegen ist nichts zu sagen, denn genau das ist in unsererm Land auf ganz großer Ebene passiert: ein Zwei-Klassensystem hat sich herauskristallisiert: Reich und Arm. Die Folgen heute sind neben viel Armut, Ungleichheit und Ungerechtigkeit eben auch eine eingewachsene Mentalität bestehend aus Opfertum, Machtlosigkeit und Resignation. Mancher Freund erklärte mir, Corona wäre die Erfindung einer reichen Elite, die damit testet, wie weit sie gehen könne. Diese Aussage habe ich in allgemeinerer Form: „einer Machtelite ausgeliefert sein“ des öfteren vernommen. Kausal betrachtet ist diese Aussage unlogisch, weil eine Gesellschaft umso stabiler dasteht, je gemütlicher und konsumfreundlicher sie ist. Oder im Umkehrschluss: man gebe dem Volk Arbeit und Annehmlichkeiten, dann rebelliert es nicht. Und genau das passiert ja de facto, was das eigentliche Drama ist.
Hierzu braucht es auch keine Machtelite, denn unser Wertesystem, auch bekannt als Kapitalismus, wird von so vielen Menschen aus allen Schichten als das derzeit am besten funktionierende Wirtschaftssystem emporgelobt, dass es sich mittlerweile aus sich selbst heraus stärkt. Kapitalismus baut im Kern auf Ungleichheit auf, was am Ende immer scheitern wird, jedenfalls für die Menschen, die weniger wert sind – und das sind einfach immer die, wie weniger Geld und damit weniger Macht haben. Wir sehen die Arm-Reich-Schere heute schon, erkennen in Gesetzgebung deutliche Bevorteilungen für wirtschaftlich organisierte Gruppierungen/ Firmen und wenn wir sehen wollen, wo unser Kapitalismus mal enden wird, dann schauen wir uns einfach mal die Vereinigten Staaten von Amerika an.
Wer an eine Machtelite glaubt, lehnt gleichsam die Verantwortung für das eigene Handeln und die eigene Untätigkeit ab. Wer selbst nicht verantwortlich ist braucht nur einen Schuldigen, auf den er den Frust aus Selbstversagen projizieren kann. Imaginäre Begleiter waren in der Kinderzeit ja schon hilfreich – zumindest eine zeitlang.
Wissenschaftliche Ansätze oder doch endlich aufwachen?
In allen Streits rund um Corona kommt man, abgesehen von gesellschaftskritischen Argumenten, immer irgendwann auf das leidige Impf-Thema, an dem sich gefühlt eine ganze Nation zerstreitet. Warum, habe ich bis heute nicht verstanden, denn wenn man eine wissenschafltiche Herangehensweisen pflegt, kann man diesem Weg gut folgen. Wer grundsätzlich seiner Paranoia keine Gegenwehr entgegenzusetzen vermag, wird auch diese Haltung weiterhin ablehnen. Selbstverständlich gibt es aber auch trifftige Gründe, sich nicht impfen zu lassen, aber eben auch viele dies zu tun. Jeder sollte dies mit seinem Hausarzt/ seiner Hausärztin besprechen und sich überlegen, wie oft man in Kontakt mit Menschen kommt, also wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung (für sich selbst und andere) ist und ob man berufsbedingt zu einer Risikogruppe gehört.
Die Infektionswellen in anderen Teilen der Welt sprechen eine deutliche Sprache und nur wer genug Trotz und verschlossene Augen – oder eben eine grundsätzlich verklärte Weltsicht besitzt – vermag auch dies noch als Fake-News verleugnen. Diese Judas-Mentalität hat sich mittlerweise über 2000 Jahre gehalten, das muss Respekt einfordern.
Vielleicht empöre ich mich zukünftig etwas weniger über jene, die sich über alles empören, aber nur, wenn diese unsäglichen Vergleiche enden. Über Corona, Weltpolitik, Soziologie und Psychologie lässt sich nämlich trefflich diskuitieren und wenn man wenigstens mal für eine kurze Zeit so täte, als nähme man hypothetisch an, man könnte sich geirrt haben, ist man der Wissenschaft bereits einen großen Schritt näher. Die Wissenschaft irrt sich nämlich empor, entwickelt sich also immer weiter, analysiert sich selbst und stellt das eigene Wissen immer wieder auf den Prüfstand. Vielleicht wäre das ja eine Geisteshaltung, die wieder etwas mehr in Mode kommen könnte. Quasi theoretisch..
Der eigentliche Antrieb.
Unabhängig vom Impfen, bei dem es sicherlich nicht verkehrt ist, auch weiterhin viel zu untersuchen und wissenschaftliche Beweisführung an den Tag zu legen, beobachte ich eher eine andere, grundsätzlichere Gefahr: die Menschen entwickeln aufgrund der starken Individualisierung der Gesellschaft Formen narzistischer Wesenszüge aus – ohne krankheitsbedingte Ursachen. Die Selbstdarstellung in den sozialen Medien, die das Statussymbol-Getue noch weiter pervertiert, führt auch massiv dazu, dass Menschen sich durch Oberflächlichkeiten definieren, auch geistig durch einfache Wahrheiten. Schnell ein neues Bild, schnell einen griffigen Satz twittern, regelmäßig Videos mit Produktwerbung hochladen: es ist wichtiger was man hat als wer man ist. Die Zeit, sich in Ruhe zu informieren, zu lesen, oder nur mal gezielt nachzudenken wird von vielen gar nicht mehr genutzt oder ad absurdum geführt: wer die als Fakten verklärten Meinungsphrasen eines selbstdarstellenden Narzisten zu oft liest, prägt sich dadurch eben auch. Vielfalt ist nicht verkehrt, aber man sollte das Spektrum gut abdecken, also auch mal die Pamphlete der Feinde zur Hand nehmen. Hier könnte man sich mit Wahrscheinlichkeit behelfen: da man selbst ja nie immer mit allem richtig liegt, ergibt es sich, das andere auch richtig liegen (können). Hinterher weiß man es zumeist ja etwas besser.
Der Individualismus ist ohne unser Ego, also die leidende, ungerecht behandelte, unzufriedene und aufmerksamkeitssüchtige Ich-Stimme gar nicht möglich – ja da haben sich zwei gefunden. Das Karussell der Beiden dreht schnell an und ist nur schwer wieder zu bremsen. Vielleicht ist es sogar das einzige echte perpetuum mobile.
Weniger Empörung. Mehr Kausalität. Mehr Mittelweg.
Stephan Keßler